Multitalent Trent Reznor bringt nicht nur einen brachialen
Sound auf die Bühne, von dem unser Chefschreiber Götz meint, er sei "härter als
Slayer". Abseits der Bretter entpuppt sich der Mann als ausgesprochen
unorthodoxer Typ. Laut eigener Aussage sitzt der vielbeachtete und zunehmend
öfter kopierte Trendsetter - trotz der kommerziellen Erfolge seiner Band NINE
INCH NAILS - lebenslänglich zwischen zwei Stühlen. Eine These, die er in seinen
kontroversen Aussagen gleich mehrfach bestätigt.
Mittlerweile sind einige Wochen seit dem jüngsten
California-Erdbeben ins Land gegangen, und Downtown L.A. ist schon wieder auf
dem Weg in die landestypisch-perverse Art von "Normalität". Wenn man die Jogger
in Sherman Oaks um den Block wackeln sieht, könnte man meinen, das Gesicht der
Stadt hätte nur ein paar kleinere Pockennarben zurückbehalten, anstatt in
streifen geschnitten zu sein. Ein merkwürdig verformter Jägerzaun hier, ein Riß
im Asphalt dort - eigentlich nichts, worüber sich zu berichten lohnte. Wenn man
diese Oberfläche dagegen ankratzt und sich abseits der wohlsituierten Gegenden
der Geldelite umschaut, findet man alle paar Meter Leute, die noch immer in
Parks nächtigen; Flüchtlinge, die nicht das Geld hatten, ihre zerschmetterten
vier Wände angemessen zu versichern.
Während diese Leute immer noch darauf hoffen, dass ihnen der
Staat ein wenig unter die Arme greift, jammern die aufgeputzten Boys and Girls
aus Beverly Hills über die immer noch bestehenden Verkehrsprobleme und schwärmen
davon, was das Beben doch für eine abgefahrene Sache gewesen sein.
"Ich bin drauf und dran, aus dem verdammten Misthaufen
abzuhauen", knurrt Trent Reznor, Stimme und Kompositeur von NINE INCH
NAILS.
Wir sitzen in einem Fotostudio in Culver City, einen
Steinwurf entfernt vom Airport. Trent, blass und unrasiert, schaut drein, als
wäre er imstande, beim verlassen des Gebäudes sämtliche Geschwindigkeitsrekorde
zu brechen, wenn ihm in dieser Sekunde jemand ein Flugticket in die Hand drücken
würde.
Reznor hat bereits ein geschlagenes Jahr in der Angel City
hinter sich; ein Jahr, das er im Le Pig-Studio mit den Aufnahmen zu seinem
dritten Album "The Downward Spiral" verbrachte, einem verstörten Ungetüm, das er
quasi im Alleingang geschrieben und aufgenommen hat - die seltsame Gastrolle von
Porno For Pyros-Drummer Stephen Perkins und Gitarrist Adrian Belew mal nicht
mitgerechnet.
Ein Gespräch mit Reznor muss sich also zwangsläufig auch um
Mord und Manson drehen, um "The Downward Spiral" und seine dunklen, tiefen
Abgründe, um Krankhaftigkeit, Erfolg und Kunst. Um alles und nichts also…
Ohne jeden Zweifel ist der Hauptanziehungspunkt für die
Medien, dass du ausgerechnet 10050 Cielo Drive in ein Studio umgewandelt hast,
um darin "The Downward Spiral" aufzunehmen…
"Ich wusste, dass einige Leute - egal was ich auch dazu sage
- diese Geschichte für einen puren Reklametrick halten würden. Die Wahrheit ist
jedoch, dass wir einfach nur auf der Suche nach einem Haus waren, um dort ein
Studio zu installieren. Wir haben uns ungefähr zehn oder 15 Hütten am Tag
angesehen, und diese kam einfach am coolsten rüber. Niemand hat uns gesagt, was
in diesem Gebäude einmal passiert ist. Das haben wir erst später entdeckt, als
irgendjemand meinte, dass Sharon Tates Haus an dieser Straße gelegen habe. Also
haben wir ein altes "Rolling Stone" durchgeblättert und mussten feststellen,
dass es eben exakt dieses Haus gewesen ist. Danach kam es uns noch eine Spur
cooler vor. Es war aber nichts von irgendwelchen unheilvollen Stimmungen zu
spüren, nicht mal eine gedrückte Atmosphäre.
Seltsam war nur, dass wir zu Anfang einen ganzen Haufen
Probleme mit den elektrischen Leitungen hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren wir
ernsthaft davon überzeugt, es hätte was mit Geistern oder ähnlichem Unsinn zu
tun. Ich glaube, wenn niemand gewusst hätte was dort passiert ist, hätte auch
keiner von uns ein mulmiges Gefühl entwickelt."
Wie auch immer - die komplette Entstehungsgeschichte des
Albums scheint mit dem Mansonmythos fest verwurzelt: Aufgenommen im Le
Pig-Studio, mit Songtitel wie ´Piggy' und ´March Of The Pigs'…
"Nein. ´Piggy' war schon fertig geschrieben, bevor ich auch
nur einen Fuß auf kalifornischen Boden gesetzt hatte. Okay - wenn man in
bestimmten Dingen unbedingt eine Bedeutung sehen will, könnte man sicherlich das
eine oder andere finden. Zum Beispiel war der Name des Studios ein kleines
Wortspiel (nachdem die Mörder Sharon und ihre Gäste um die Ecke gebracht hatten,
schmierten sie mit Blut das Wort ´Pigs' an die Wände und Türen des Hauses. -
Anm. d. Verf.), aber es war ursprünglich nicht gedacht, einen direkten Bezug
herzustellen.
Ich bin von Charles Manson nicht gerade übermäßig fasziniert.
Und er war schon gar nicht der Anstoß für mich, nach Kalifornien zu gehen. Wenn
überhaupt, dann hat mich diese geballte Masse an Leuten eher abgestoßen, die
eine Person zum Idol hochstilisieren, die für den Tod mehrerer Menschen
verantwortlich ist. Ich habe in der Zwischenzeit einen der engsten Freunde von
Sharon Tates Schwester kennergelernt, und aus diesem Blickwinkel betrachtest du
diese Sache noch viel zwiespältiger."
"The Downward Spiral" ist nicht gerade die naheliegendste
Scheibe, die du hättest machen können. War es ein überlegter Versuch, dich von
den Etiketten ´Industrial' und ´Metal' zu distanzieren?
"Eindeutig. Es war ein bewusst herbeigeführter Effekt, den
Spielraum von NINE INCH NAILS zu erweitern. So, wie ich es gemacht habe,
unterscheidet es sich völlig von meinen bisherigen Platten. Ich brauchte einfach
eine andere Art von Herangehensweise ans Songwriting und die Arrangements und
wollte auf keinen Fall in die Strukturen von "Broken" oder "Pretty Hate Machine"
zurückfallen. Es war nicht das sicherste oder vorhersehbarste Album, das ich
hätte machen können. Es hat insgesamt 14 Monate in Anspruch genommen. Und für
die mich war es keinesfalls ein Werkstück, an das ich mich einfach gesetzt habe,
um wieder und wieder an meinen technischen Fähigkeiten in puncto Songwriting
herumzupfeilen. Wenn ich gerade nicht auszudrücken habe, packe ich weder eine
Gitarre an noch bastel' ich am Computer ´rum."
Wie siehst du dich selbst? Als Pionier? Als Künstler?
"Ja. Es klingt zwar ein bisschen anmaßend, so etwas
zuzugeben, vor allem in der unkünstlerischen Welt der Rockmusik, aber so ist es.
Okay, natürlich ist mir klar, dass ich ein kommerzielles Produkt aufbaue, und
mir ist das kommerzielle Potential auch bewusst, während ich daran
arbeite…
Ich sage nicht: Yeah, ich habe die Gitarre,
Produktionsmethoden - oder was auch immer - neu definiert, aber ich beschäftige
mich damit wesentlich mehr als beispielsweise Nirvana. Das, was sie machen, ist
sicherlich sehr gut, aber ich betrachte Dinge aus einer anderen Richtung. Im
Grunde genommen bedeutet das möglicherweise natürlich gar nichts. Im Endeffekt
verkaufen Nirvana eine ganze Menge Scheiben mehr als ich. Wenn das die
Hauptsache ist, okay, dann verschwende ich wahrscheinlich nur meine Zeit."
Du änderst sowohl deinen Sound als auch dein Äußeres ständig.
Liegt das daran, dass du unsicher bist, oder checkst du nur aus, wie weit das
Publikum mitgeht?
"Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus Langeweile und
Unsicherheit. Der Sound auf den Alben ändert sich, weil ich denke, dass man sich
fortbewegen muss, möglicherweise auch auf die Gefahr hin, dass man das, was
vorher was, dadurch ruiniert. Und mein Aussehen? Du kannst dir ´nen Strauß
Neurosen einhandeln, wenn du dein Gesicht in einem Magazin abgedruckt siehst.
Ich bin, verdammt noch mal, doch kein Model", spuckt er aus. Es ist eine Art
unangenehmer Nebeneffekt, wenn du spürst, dass dich jedermann förmlich mit
Blicken zerlegen kann. Mein persönliches Leben ist und beleibt ganz allein meine
Sache…"
Es scheint jedoch, dass du darin schwelgst, Leute zu
schockieren. Dein ´Slavery'-Promo-Video ist angesichts seiner Blut- und
Folter-Images quasi mit einem Zensurbalken versehen worden. Hat diese
Einstellung etwas mit deiner persönlichen Geschichte zu tun?
"Oh ja, ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, in der
die Leute glaubten, dass das Fernsehen die Offenbarung der achtziger Jahre sei.
Meine extremen Neigungen rühren daher, dass dort nichts Derartiges erhältlich
war. Ich nehme an, dass du als ausgeglichener Mensch wahrlich keine Sound der
Sorte Nine Inch Nails brauchst. Ich persönlich habe in meinem ganzen Leben stets
zwischen allen Stühlen gesessen, und wenn es das ist, wo diese Dinge ihren
Ursprung haben, passe ich wahrscheinlich auch jetzt noch nirgendwo rein.
Grundsätzlich mag ich Videos überhaupt nicht, weil ich sie entsetzlich
langweilig finde.
Bei diesem speziellen Song hatte ich eine Idee, von der ich
dachte, es wäre nicht uninteressant, sie weiterzuverfolgen. Ich war mir zwar
nicht ganz sicher, wie weit wir bei der optischen Umsetzung gehen könnten, aber
während wir daran herumbastelten, war mir bereits klar, dass es für MTV wohl auf
keinen Fall sendefähig sein würde. Trotzdem: In dem Moment, in dem du es
rechtfertigst, Geld für derlei auszugeben, obwohl du weißt, dass du damit kaum
Airplay bekommen wirst - das ist schon fast eine ganz eigene Art von Freiheit.
Mir war lediglich wichtig, etwas Aufregendes, Aufwühlendes zu produzieren. Eine
Menge Leute, die sich das angesehen haben, waren regelrecht abgestoßen, aber sie
hatten immerhin etwa, worüber sie reden konnten."
Wie ist es Mr. Und Mrs. Reznor in ihrer Kleinstadt zu
ergangen? Fühlten sich deine Eltern von den Auswüchsen deiner Phantasie
ebenfalls abgestoßen?
"Nun, ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen. Die
Generationskluft ist also doppelt so breit. Ich hab' sie trotzdem einfach
angerufen und darauf vorbereitet, dass ich mit diesem Ding einigen Leuten ganz
gehörig an die Gurgel springen dürfte und dass ich es aus ganz bestimmten
Gründen durchziehen wolle: meinen eigenen nämlich. Ich hab' sie aber trotzdem
gewarnt: Wenn euch demnächst der Dorpriester auf der Straße begegnet, stellt
euch darauf ein, dass er wahrscheinlich kein Fan von NINE INCH NAILS ist…
Meine alten Herrschaften sind irgendwie schon recht cool. Die
tun wenigstens nicht so, als ob sie dich verstehen. Für sie gibt es zwischen
Michael Jackson und Pearl Jam ohnehin keinen Unterschied: Es sind einfach Bands,
die auf MTV laufen…"
Was ist bislang wohl der bezeichnendeste Beitrag, den Trent
Reznor der Unterhaltungsindustrie geliefert hat?
"´Broken', von dem ich annahm, dass es so ziemlich jeden
abschrecken würde, hat einen fucking Grammy für den besten Hardrock-Song, oder
so ähnlich, eingeheimst. Ich hab' das dazugehörige Lexikon nicht gewälzt, aber
ich bin mir recht sicher, dass es der erste preisgekrönte Song ist, der den
schönen Begriff "fist fuck" transportiert. Also hab' ich in meinem Leben doch
schon was Bemerkenswertes erreicht."
Paul Rees
(Übersetzung: Matthias Breusch)