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Jahr 1994

Rockhard

August 1994

Alles & Nichts

von Paul Rees

 

 Multitalent Trent Reznor bringt nicht nur einen brachialen Sound auf die Bühne, von dem unser Chefschreiber Götz meint, er sei "härter als Slayer". Abseits der Bretter entpuppt sich der Mann als ausgesprochen unorthodoxer Typ. Laut eigener Aussage sitzt der vielbeachtete und zunehmend öfter kopierte Trendsetter - trotz der kommerziellen Erfolge seiner Band NINE INCH NAILS - lebenslänglich zwischen zwei Stühlen. Eine These, die er in seinen kontroversen Aussagen gleich mehrfach bestätigt.

Mittlerweile sind einige Wochen seit dem jüngsten California-Erdbeben ins Land gegangen, und Downtown L.A. ist schon wieder auf dem Weg in die landestypisch-perverse Art von "Normalität". Wenn man die Jogger in Sherman Oaks um den Block wackeln sieht, könnte man meinen, das Gesicht der Stadt hätte nur ein paar kleinere Pockennarben zurückbehalten, anstatt in streifen geschnitten zu sein. Ein merkwürdig verformter Jägerzaun hier, ein Riß im Asphalt dort - eigentlich nichts, worüber sich zu berichten lohnte. Wenn man diese Oberfläche dagegen ankratzt und sich abseits der wohlsituierten Gegenden der Geldelite umschaut, findet man alle paar Meter Leute, die noch immer in Parks nächtigen; Flüchtlinge, die nicht das Geld hatten, ihre zerschmetterten vier Wände angemessen zu versichern.

Während diese Leute immer noch darauf hoffen, dass ihnen der Staat ein wenig unter die Arme greift, jammern die aufgeputzten Boys and Girls aus Beverly Hills über die immer noch bestehenden Verkehrsprobleme und schwärmen davon, was das Beben doch für eine abgefahrene Sache gewesen sein.

 "Ich bin drauf und dran, aus dem verdammten Misthaufen abzuhauen", knurrt Trent Reznor, Stimme und Kompositeur von NINE INCH NAILS.

 Wir sitzen in einem Fotostudio in Culver City, einen Steinwurf entfernt vom Airport. Trent, blass und unrasiert, schaut drein, als wäre er imstande, beim verlassen des Gebäudes sämtliche Geschwindigkeitsrekorde zu brechen, wenn ihm in dieser Sekunde jemand ein Flugticket in die Hand drücken würde.

 Reznor hat bereits ein geschlagenes Jahr in der Angel City hinter sich; ein Jahr, das er im Le Pig-Studio mit den Aufnahmen zu seinem dritten Album "The Downward Spiral" verbrachte, einem verstörten Ungetüm, das er quasi im Alleingang geschrieben und aufgenommen hat - die seltsame Gastrolle von Porno For Pyros-Drummer Stephen Perkins und Gitarrist Adrian Belew mal nicht mitgerechnet.

Le Pig trägt tatsächlich die Adresse 10050 Cielo Drive und ist damit in der ehemaligen Villa von Filmregisseur Roman Polanski und seiner Frau Sharon Tate untergebracht. Also genau jenem Gebäude, in dem der "Summer of Love" in einer heißen Nacht 1969 endete, als Sharon und vier ihrer Freunde von Mitgliedern der berüchtigten Charles Manson-Family gemeuchelt wurden. Ein Ort, wie dafür geschaffen, Publicity wie ein Magnet anzuziehen.

 Ein Gespräch mit Reznor muss sich also zwangsläufig auch um Mord und Manson drehen, um "The Downward Spiral" und seine dunklen, tiefen Abgründe, um Krankhaftigkeit, Erfolg und Kunst. Um alles und nichts also…

 Ohne jeden Zweifel ist der Hauptanziehungspunkt für die Medien, dass du ausgerechnet 10050 Cielo Drive in ein Studio umgewandelt hast, um darin "The Downward Spiral" aufzunehmen…

 "Ich wusste, dass einige Leute - egal was ich auch dazu sage - diese Geschichte für einen puren Reklametrick halten würden. Die Wahrheit ist jedoch, dass wir einfach nur auf der Suche nach einem Haus waren, um dort ein Studio zu installieren. Wir haben uns ungefähr zehn oder 15 Hütten am Tag angesehen, und diese kam einfach am coolsten rüber. Niemand hat uns gesagt, was in diesem Gebäude einmal passiert ist. Das haben wir erst später entdeckt, als irgendjemand meinte, dass Sharon Tates Haus an dieser Straße gelegen habe. Also haben wir ein altes "Rolling Stone" durchgeblättert und mussten feststellen, dass es eben exakt dieses Haus gewesen ist. Danach kam es uns noch eine Spur cooler vor. Es war aber nichts von irgendwelchen unheilvollen Stimmungen zu spüren, nicht mal eine gedrückte Atmosphäre.

 Seltsam war nur, dass wir zu Anfang einen ganzen Haufen Probleme mit den elektrischen Leitungen hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren wir ernsthaft davon überzeugt, es hätte was mit Geistern oder ähnlichem Unsinn zu tun. Ich glaube, wenn niemand gewusst hätte was dort passiert ist, hätte auch keiner von uns ein mulmiges Gefühl entwickelt."

 Wie auch immer - die komplette Entstehungsgeschichte des Albums scheint mit dem Mansonmythos fest verwurzelt: Aufgenommen im Le Pig-Studio, mit Songtitel wie ´Piggy' und ´March Of The Pigs'…

 "Nein. ´Piggy' war schon fertig geschrieben, bevor ich auch nur einen Fuß auf kalifornischen Boden gesetzt hatte. Okay - wenn man in bestimmten Dingen unbedingt eine Bedeutung sehen will, könnte man sicherlich das eine oder andere finden. Zum Beispiel war der Name des Studios ein kleines Wortspiel (nachdem die Mörder Sharon und ihre Gäste um die Ecke gebracht hatten, schmierten sie mit Blut das Wort ´Pigs' an die Wände und Türen des Hauses. - Anm. d. Verf.), aber es war ursprünglich nicht gedacht, einen direkten Bezug herzustellen.

 Ich bin von Charles Manson nicht gerade übermäßig fasziniert. Und er war schon gar nicht der Anstoß für mich, nach Kalifornien zu gehen. Wenn überhaupt, dann hat mich diese geballte Masse an Leuten eher abgestoßen, die eine Person zum Idol hochstilisieren, die für den Tod mehrerer Menschen verantwortlich ist. Ich habe in der Zwischenzeit einen der engsten Freunde von Sharon Tates Schwester kennergelernt, und aus diesem Blickwinkel betrachtest du diese Sache noch viel zwiespältiger."

 "The Downward Spiral" ist nicht gerade die naheliegendste Scheibe, die du hättest machen können. War es ein überlegter Versuch, dich von den Etiketten ´Industrial' und ´Metal' zu distanzieren?

 "Eindeutig. Es war ein bewusst herbeigeführter Effekt, den Spielraum von NINE INCH NAILS zu erweitern. So, wie ich es gemacht habe, unterscheidet es sich völlig von meinen bisherigen Platten. Ich brauchte einfach eine andere Art von Herangehensweise ans Songwriting und die Arrangements und wollte auf keinen Fall in die Strukturen von "Broken" oder "Pretty Hate Machine" zurückfallen. Es war nicht das sicherste oder vorhersehbarste Album, das ich hätte machen können. Es hat insgesamt 14 Monate in Anspruch genommen. Und für die mich war es keinesfalls ein Werkstück, an das ich mich einfach gesetzt habe, um wieder und wieder an meinen technischen Fähigkeiten in puncto Songwriting herumzupfeilen. Wenn ich gerade nicht auszudrücken habe, packe ich weder eine Gitarre an noch bastel' ich am Computer ´rum."

 Wie siehst du dich selbst? Als Pionier? Als Künstler?

 "Ja. Es klingt zwar ein bisschen anmaßend, so etwas zuzugeben, vor allem in der unkünstlerischen Welt der Rockmusik, aber so ist es. Okay, natürlich ist mir klar, dass ich ein kommerzielles Produkt aufbaue, und mir ist das kommerzielle Potential auch bewusst, während ich daran arbeite…

Ich sage nicht: Yeah, ich habe die Gitarre, Produktionsmethoden - oder was auch immer - neu definiert, aber ich beschäftige mich damit wesentlich mehr als beispielsweise Nirvana. Das, was sie machen, ist sicherlich sehr gut, aber ich betrachte Dinge aus einer anderen Richtung. Im Grunde genommen bedeutet das möglicherweise natürlich gar nichts. Im Endeffekt verkaufen Nirvana eine ganze Menge Scheiben mehr als ich. Wenn das die Hauptsache ist, okay, dann verschwende ich wahrscheinlich nur meine Zeit."

 Du änderst sowohl deinen Sound als auch dein Äußeres ständig. Liegt das daran, dass du unsicher bist, oder checkst du nur aus, wie weit das Publikum mitgeht?

 "Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus Langeweile und Unsicherheit. Der Sound auf den Alben ändert sich, weil ich denke, dass man sich fortbewegen muss, möglicherweise auch auf die Gefahr hin, dass man das, was vorher was, dadurch ruiniert. Und mein Aussehen? Du kannst dir ´nen Strauß Neurosen einhandeln, wenn du dein Gesicht in einem Magazin abgedruckt siehst. Ich bin, verdammt noch mal, doch kein Model", spuckt er aus. Es ist eine Art unangenehmer Nebeneffekt, wenn du spürst, dass dich jedermann förmlich mit Blicken zerlegen kann. Mein persönliches Leben ist und beleibt ganz allein meine Sache…"

 Es scheint jedoch, dass du darin schwelgst, Leute zu schockieren. Dein ´Slavery'-Promo-Video ist angesichts seiner Blut- und Folter-Images quasi mit einem Zensurbalken versehen worden. Hat diese Einstellung etwas mit deiner persönlichen Geschichte zu tun?

 "Oh ja, ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, in der die Leute glaubten, dass das Fernsehen die Offenbarung der achtziger Jahre sei. Meine extremen Neigungen rühren daher, dass dort nichts Derartiges erhältlich war. Ich nehme an, dass du als ausgeglichener Mensch wahrlich keine Sound der Sorte Nine Inch Nails brauchst. Ich persönlich habe in meinem ganzen Leben stets zwischen allen Stühlen gesessen, und wenn es das ist, wo diese Dinge ihren Ursprung haben, passe ich wahrscheinlich auch jetzt noch nirgendwo rein. Grundsätzlich mag ich Videos überhaupt nicht, weil ich sie entsetzlich langweilig finde.

 Bei diesem speziellen Song hatte ich eine Idee, von der ich dachte, es wäre nicht uninteressant, sie weiterzuverfolgen. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, wie weit wir bei der optischen Umsetzung gehen könnten, aber während wir daran herumbastelten, war mir bereits klar, dass es für MTV wohl auf keinen Fall sendefähig sein würde. Trotzdem: In dem Moment, in dem du es rechtfertigst, Geld für derlei auszugeben, obwohl du weißt, dass du damit kaum Airplay bekommen wirst - das ist schon fast eine ganz eigene Art von Freiheit. Mir war lediglich wichtig, etwas Aufregendes, Aufwühlendes zu produzieren. Eine Menge Leute, die sich das angesehen haben, waren regelrecht abgestoßen, aber sie hatten immerhin etwa, worüber sie reden konnten."

 Wie ist es Mr. Und Mrs. Reznor in ihrer Kleinstadt zu ergangen? Fühlten sich deine Eltern von den Auswüchsen deiner Phantasie ebenfalls abgestoßen?

 "Nun, ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen. Die Generationskluft ist also doppelt so breit. Ich hab' sie trotzdem einfach angerufen und darauf vorbereitet, dass ich mit diesem Ding einigen Leuten ganz gehörig an die Gurgel springen dürfte und dass  ich es aus ganz bestimmten Gründen durchziehen wolle: meinen eigenen nämlich. Ich hab' sie aber trotzdem gewarnt: Wenn euch demnächst der Dorpriester auf der Straße begegnet, stellt euch darauf ein, dass er wahrscheinlich kein Fan von NINE INCH NAILS ist…

 Meine alten Herrschaften sind irgendwie schon recht cool. Die tun wenigstens nicht so, als ob sie dich verstehen. Für sie gibt es zwischen Michael Jackson und Pearl Jam ohnehin keinen Unterschied: Es sind einfach Bands, die auf MTV laufen…"

 Was ist bislang wohl der bezeichnendeste Beitrag, den Trent Reznor der Unterhaltungsindustrie geliefert hat?

 "´Broken', von dem ich annahm, dass es so ziemlich jeden abschrecken würde, hat einen fucking Grammy für den besten Hardrock-Song, oder so ähnlich, eingeheimst. Ich hab' das dazugehörige Lexikon nicht gewälzt, aber ich bin mir recht sicher, dass es der erste preisgekrönte Song ist, der den schönen Begriff "fist fuck" transportiert. Also hab' ich in meinem Leben doch schon was Bemerkenswertes erreicht."

 Paul Rees

(Übersetzung: Matthias Breusch)

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