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Auf ihrem aktuellen Live-Album AND ALL THAT COULD HAVE
BEEN bieten NINE INCH NAILS nicht nur eine Retrospektive ihrer Karriere, sondern
zeigen zudem Chef TRENT REZNOR von einer völlig neuen Seite.
Gold-Auszeichnungen, Grammy-Awards, mehrfach preisgekrönte
Video-Clips, die (zugegeben eher fragwürdige) Wahl zum Sexsymbol des Jahres:
Trent Reznor kann sich über einen Mangel an Aufmerksamkeit nicht beklagen. Er
ist der Liebling einer stetig wachsenden Gefolgschaft, für die seine
audiovisuellen Klang-Abenteuer das Nonplusultra musikalischen Geschmacks
darstellen. Mit dem Erfolg revidierte Reznor allerdings seine
existenzialistische Perspektive und damit seine Gemütsverfassung: Der
ursprüngliche destruktiv fühlende Mensch durchlebte eine wundersame Wandlung.
"Meine Lebenssituation hat sich im Laufe der Zeit geändert, meine Finanzlage,
meine Freunde, so ziemlich alles", erklärt der 36-Jährige und ist sich dabei
nicht ganz sicher, ob er diesen Zustand lobpreisen oder eher bedauern soll. Denn
was sich in der vergangenen Dekade auf dem Nährboden von Zorn, Einsamkeit,
Selbstzweifel und Frustration musikalisch entwickelt hat, gehört zur Créme de la
Créme zeitgenössischen Rocks. Daher könnten sich mit der Metamorphose hin zur
puren Zufriedenheit im schlimmsten Fall auch die Attribute von Reznors Musik
ändern. Dich der sensible Komponist ist sich der Gefahr bewusst und schwört auf
Authentizität seiner Arbeitsmoral, auf die Einhaltung ehrenhafter Motive. "Der
Grund, weshalb ich überhaupt Musik mache, hat sich nie geändert. Ich liebe die
Studioarbeit und lerne ständig von ihr, ich gehe gerne auf die Bühne, wollte
schon immer Musik machen und dafür bezahlt werden. Als ich Ende der Achtziger am
Nine Inch Nails-Debüt PRETTY HATE MACHINE arbeitete, war mein oberstes Ziel, so
ehrlich und authentisch wie nur irgend möglich zu sein. Damals war ich ein
zorniger, unglücklicher junger Mann, der seinen Gefühlen feien Lauf ließ. Nichts
war aufgesetzt, alles echt und wahrhaftig, auch wenn ich einigen Leuten damit
vor den Kopf stieß. Zu meiner Überraschung wurden nicht nur meine Songs gemocht,
sondern gab es auch offenkundige Sympathien für meine Text-Botschaften".
Sirenengesänge
Das Stichwort lautet "Industrial", jene eindringliche,
zumeist kühle und technoid lärmende Mixtur aus urbanen Geräusch-Sequenzen,
harten Metal-Passagen und jener Portion visueller Aussagekraft, die Reznors
Musik für Kino-Soundtracks prädestiniert - und bereits in gelungenen Beiträgen
zu ´Tomb Raider´, ´National Born Killers´ oder auch ´The Crow´ mündete. Reznor
ist der Kopf, nein, der alleinige Macher der Nine Inch Nails. Seit 1989, seit
dem sensationellen Erfolg des NIN-Debüts, liegen ihm die Massen zu Füßen.
Jedenfalls in Amerika, wo seine Band die größten Arenen füllt. Auch alle
weiteren Scheiben erweisen sich als Verkaufschlager, aus dem armen aber
hoffnungsvollen Nachwuchskünstler Reznor wurde ein millionenschwerer Superstar,
der als Kehrseite der Medaille nun täglich den Verlockungen des schnöden Mammon
ausgesetzt ist - nicht zuletzt durch die permanenten Sirenengesänge seines
Umfeldes. "Ich brauche mir natürlich keine Sorgen mehr über die nächste
Wasserrechnung zu machen", analysiert er die Vorzüge eines prall gefüllten
Bankkontos. "Das musste ich noch, als ich PRETTY HATE MACHINE produzierte.
Damals schlug ich mich mit zwanzig Dollar die Woche durch. Doch das hat sich
grundlegend geändert, und damit nahm die Zahl der Leute in meinem Umfeld zu, die
forderten: ´Mensch, schreib doch mal ´nen Single-Hit, dann könntest du viel mehr
Schreiben verkaufen! Dein letztes Album ging vier Millionen Mal über den
Ladentisch, aber es wären sicherlich sechs Millionen drin, wenn du etwas
wirklich Radio-taugliches schreiben könntest.´ Man muss solchen Stimmen
entgegentreten und sich darauf besinnen, seine Musik weiterhin aus rein
künstlerischen Motiven zu machen." Wichtig ist Reznor vor allem, dass ihm die eigene Musik
gefällt. Wenn sie dann auch noch von anderen Menschen konsumiert wird, umso
besser - das allein kann seiner Ansicht nach jedoch nicht die eigentliche
Motivation eines Künstlers sein. "Das klingt so simpel, aber es ist doch sehr
kompliziert", erklärt er. "Man sieht immer wieder, dass Bands nach großen
Erfolgen völlig abflachen, weil sie nur noch auf den Erfolg schielen, weil sie
Musik machen, um damit Geld zu verdienen. Ich kann niemals weitere Erfolge von
Nine Inch Nails versprechen, aber ich versichere, dass meine Musik immer ehrlich
und authentisch bleibt."
Liegt Europa im Tiefschlaf?
Während Amerika bereits lange mit dem NIN-Virus infiziert
ist, ticken die Uhren in Europa anders. Im Vergleich zu den USA stecken Reznors
Popularität, die Verkaufszahlen seiner Alben und die Nachfrage nach
Konzertkarten hier noch in den Kinderschuhen. Woran das liegt? Sicherlich an der
unterschiedlichen Publikumsmentalität, aber - hier jedenfalls wittert Reznor da
Übel für verhältnismäßig überschaubare Erfolge - wohl auch am fehlenden
Engagement der Vertragspartner. "Wir wissen jetzt endlich, wo die Probleme
liegen", sieht er ein Licht am Ende des Tunnels. "Es gab nicht erfüllte
Versprechungen, einige Versäumnisse seitens der Plattenfirma. Wir haben erkannt,
woran wir sind und werden uns darauf einstellen, so lange wir bei ihnen unter
Vertrag sind. Verträge zu kündigen ist kein leichter Vorgang, vor allem nicht in
Amerika. Wir werden uns damit arrangieren müssen - jedoch im Gegenzug alles
ausnutzen und aggressiv einfordern, was uns sichtlich zusteht."
Hoffentlich auch die Realisation von weiteren Stippvisiten in
Europa. Denn die letzte reguläre Tournee der Nine Inch Nails liegt fast drei
Jahre zurück. THE FRAGILE hieß das 99er-Album, mit dem die Gruppe durch hiesige
Clubs tourte. Eine Reihe der Amerika-Shows dieser Konzertreise wurden
aufgezeichnet und nun unter dem Titel AND ALL THAT COULD HAVE BEEN als CD und
DVD veröffentlicht. Ein Unterfangen, das vor Jahren bereits einmal auf dem Plan
stand, aufgrund künstlerischer Bedenken des Chefdenkers aber keine Umsetzung
erfuhr. "Der ursprüngliche Plan war bereits auf der Tour zu THE DOWNWARD SPIRAL
(1994-1996) ein Live-Album aufzuzeichnen. Ich hatte ein gutes Gefühl: Die Band
war sehr vital, die Shows auf hohem Niveau, die Publikumsreaktionen fabelhaft.
Also heuerte ich ein großes Film-Team an, um ein Konzert aufzuzeichnen. Das
Ergebnis war fürchterlich. Es wirkte wie aus einer regulären Fernsehsendung:
steril und gekünstelt. Ich wollte aber ein möglichst authentisches Ergebnis und
nicht Aufnahmen von irgendwelchen riesigen Kränen, die typisch für den Glamour
des kommerziellen Showbiz sind. Das Resultat entsprach nicht im Ansatz dem, was
eine NIN-Show ausmacht."
Der Plan, die Aufnahmen via CD und VHS/DCD einer breiten
Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde daher zum Entsetzten der Plattenfirma
- wieder verworfen. Auch Reznor selbst war alles andere als glücklich über den
Fehlstart seines ehrgeizigen Vorhabens. Enttäuscht wandte er sich zunächst vom
Plan einer Bühnendokumentation ab und kümmerte sich um das anstehende
Studioalbum THE FRAGILE um jedoch auf der anschließenden ´2000 Fragility
V2.0´US-Tournee einen erneuten und diesmal erfolgreichen Anlauf zu wagen. Die
ausgewählten Mitschnitte erscheinen im Frühjahr in Form von AND ALL THAT COULD
HAVE BEEN als CD beziehungsweise via DVD. Reznor ist zufrieden: "Diesmal wusste
ich zumindest, was ich nicht wollte. Ich beschäftigte mich mit den Möglichkeiten
von DVD und Video, ließ mir einige Mini-Digitalkameras zeigen, die wirklich sehr
gut und vor allem PC-kompatibel sind. Mit ihnen filmten wir die letzten 25 Shows
der Tour, setzten uns anschließend hin und werteten das Material aus. Die
besten Mitschnitte wurden zusammengestellt und mit Dolby-Surround-Sound
versehen. Auf der DVD gibt es Aufnahmen, bei denen die Balance aus Bild und Ton
extrem gelungen sind, auf der CD-Fassung befinden sich die am besten klingenden
Stücke. Darüber hinaus gibt es eine weitere Facette der Nine Inch Nails, ich
nenne sie immer ´die delikate Seite der Band'. Nämlich die Songs, die irgendwie
nicht zur jeweiligen Show passen, aber dennoch ein wichtiges Kapitel
darstellen."
Reznor intim - die Pianosongs
Diese Lieder sind auf DECONSTRUCTED/QUIET gebannt, einer
beigelegten Extra-CD, auf der sich die Nine Inch Nails experimentell zeigen, die
den puren Charme von nur auf das Wesentliche beschränkten Kompositionen
offenbaren. "Wir spielten eine Radio-Show in Chicago, die sehr ungekünstelt war,
d. h. wir brachten nur das nötigste Equipment mit und präsentierten die meisten
Sachen rein akustisch. Die Stücke haben eine fantastische Stimmung. Wir
verknüpften sie mit anderen Songs und einigen Instrumental-Versionen. Ich finde,
diese Nummern gehen eine tolle Verbindung mit der regulären Live-CD ein. Man hat
einerseits Nine Inch Nails als gewalttätigen, lärmenden und chaotischen
Rock-Act, während DECONSTRUCTED/QUIET das genaue Gegenteil darstellt. Die
Aufnahmen sind sehr intim, zumeist nur ich und ein Piano. Lieder, die man an
einem regnerischen Samstagnachmittag anhören sollte. Es ist der perfekte
Kontrapunkt zu allen bisherigen NIN-Scheiben."
Technik-Aspekte
Ein Gegenpol zum sonstigen Bühnengebaren der Gruppe, die
schon aus Prinzip jeden Ansatz anheimelnder Gefühle scheut wie der Teufel das
Weihwasser. In ihren Konzerten kokettieren NIN mit akustischen Horrorszenarien,
dreschen dumpfe Rhythmen im grellen Gegenlicht einer gespenstischen
Bühnendekoration und setzen das harsche Klangbild der Studio-Versionen
konsequent fort. "Immer wenn ein Album fertigerstellt ist, überlege ich mir, in
welcher Form die Songs auf der Bühne präsentiert werden sollten. Nur ich mit
einem Kassettenrekorder? Oder aber mit einer kompletten Live-Band? Etwa mit
dreißig Musikern auf der Bühne? Wir haben mehrfach mit einer regulären
Rock-Band, also Musikern an Bass, Gitarre, Schlagzeug und Keyboards getourt. Ich
fand das sehr aufregend, weil es mir dir Möglichkeit gab, die Studio-Versionen
der Songs neu zu interpretieren. Sie wurden rauer, härter, aber auch
organischer. Der Haken ist jedoch, dass ich im Studio nicht mit einem
Drumcomputer arbeite, weil ich keinen geeigneten Schlagzeuger finden konnte,
sonder weil ich den Sound von Drumcomputern mag."
Reznor setzt Maschinen bewusst als Instrumente ein und nur
sehr selten, um einen leibhaftigen Musiker nachzuahmen. Wenn er auf einen
Sampler zurückgreift, dann nicht, um einen Menschen zu ersetzen, sondern um
einen bestimmten Sound zu erzeugen. Reznor verwendet Sampler für gezielte
Klangbilder, nicht als Imitation. Bei der Frage, in welcher Form man die per se
kühlen, technoiden und oft genug morbiden Songs adäquater auf der Bühne
präsentieren sollte, spielt ein bestimmtes elektronisches Gefühl die
vorherrschende Rolle. "Ich mag dieses Roboter-mäßige rhythmische Flair. Es ist
ebenso spannend, mit einem richtigen Drummer und einem leibhaftigen Bassisten zu
spielen. Doch der künstlerische Aspekt soll beibehalten werden. Deshalb haben
wir alle Computer-Passagen mittlerweile auf eine digitale Kassette überspielt,
die wir bei einigen Stücken zusätzlich zum Schlagzeug mitlaufen lassen. Der
Computer ist somit ein Teil der Band, kein Hilfsmittel."
Nabelschau: Reznor Quo Vadis?
Trotz teilweise bewusst entmenschlichter Musik, trotz kalter
Computer-Klänge, Sampler und Sequenzer: Vorbei scheint jene Phase von Reznors
Karriere, als er mit sich und der Welt hoffnungslos im Clinch lag. Noch bis Ende
der Neunziger tobte in seinen Songs der gesamte Frust einer waidwunden Seele.
Licht oder gar Hoffnung entdeckte man nur bei genauster Recherche. "Zu Zeiten
von THE DOWNWARD SPIRAL war ich in einer sehr düsteren Phase, dachte, dass ich
nichts und niemanden brauche. ´Fuck the world and fuck everybody!' Ich benötige
nur mich und sonst niemanden. Dieses Grundgefühl hat sich geändert, auch wenn
einzelne Spuren davon immer noch in mir sind. PRETTY HATE MACHINE bedeutete: Ich
hasse diese Welt, die mir Unrecht tut, aber ich kann mich zur Wehr setzen.
BROKEN und THE DOWNWARD SPIRAL symbolisierten: Die Welt tut mir Unrecht, aber
auch ich selbst tue mir Unrecht und ich hasse mich dafür. THE FRAGILE dagegen
war ein Heilungsprozess, sozusagen der Vorgang, die Scherben wieder
aufzusammeln."
Wohin führt der Weg von Nine Inch Nails? Die Antwort dürfte
nicht allzu lange auf soch warten lassen, denn noch in diesem Jahr könnte man
bei optimistischer Prognose mit neuem Material rechnen. Reznor jedenfalls
schraubt bereits fleißig in seinem Studio. An eine Fortsetzung der mit
DECONSTRUCTED/QUIET eingeschlagenen Richtung glaubt er indes nicht: "Die
Scheibe, an der ich zur Zeit arbeite, hat wieder ein eher kühleres,
distanziertes Flair."
Matthias Mineur
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