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Jahr 2005

 

Visions

 

Mai 2005

 

Die letzten Jahre waren Sünde genug (Interview)

 

Autor: Sascha Krüger

 

 

Ein sehr langer Artikel. Er teilt sich in zwei Einheiten auf: zuerst ein Interview und dann eine Retrospektive über die Geschichte der Band. Das Interview folgt gleich als erstes. Wer gleich zur Retrosepktive wechseln möchte kann dies über diesen Link tun.

 

 

 TRENT REZNOR spricht - wie ein Wasserfall. Über Süchte und Sehnsüchte, Therapien und Rückfälle, kreative Ursprünge und falsche Einschätzungen des eigenen Ich und über seinen 40. Geburtstag und die Angst, ein neuer Mick Jagger zu werden.

  VISIONS: Wir wollen aus der nächsten Dreiviertelstunde keine therapeutische Sitzung machen, aber je mehr man sich mit der Entstehung und Herkunft des neuen Albums beschäftigt, umso mehr findet man heraus, dass man über radikale Veränderungen sprechen muss.

Trent Reznor: Das scheint der Fall zu sein, ja.

 VISIONS: Nun: Was sollte die Welt erfahren über den wiedergeborenen Trent Reznor?

 Reznor: ‚Wiedergeboren' ist mir ein zu beladenes Wort, es hat diesen christlichen Glanz.

 VISIONS: Wie wäre es dann mit ‚neuerfunden'?

 Reznor: Das ist okay. Als diese Interview-Tour begann, habe ich bereits überlegt, wie ich mit der aktuellen Situation umgehen soll. Ich muss über mich sprechen, um das Album zu erklären, aber gleichzeitig stellt sich mir die Frage: Wie viel von deinem Leben willst du in Interviews weggeben?

 VISIONS: Angst vor dem öffentlichen Seelenstriptease?

 Reznor: Vor allem will ich verhindern, dass ich mein eigenes Leben als Marketing-Tool missbrauche und die letzten Jahre in ein paar Schlagworte verpacke. Und doch: Wenn man darüber nachdenkt, worum es auf der Platte geht, warum ich jetzt hier sitze - so ziemlich jeder Aspekt meines Lebens wird auf dem Album reflektiert. Wäre ich nicht willens, etwas von mir zu erzählen, müsste ich mir die ganze Zeit Lügen ausdenken, denn mein Leben und dieses Album sind sehr eng mit einander verwoben.

 VISIONS: Mehr als die Alben davor?

 Reznor: Mehr als alle zuvor, ja. Mir ist sehr vieles über mich klar geworden in der jüngsten Zeit; nicht nur mein aktuelles Leben betreffend, sondern auch die Vergangenheit. Ich kann jetzt erklären, warum jedes Album so klang, wie es klang, warum vieles so ätzend lange gedauert hat.

 VISIONS: Wo muss man ansetzen, um "With Teeth" zu verstehen?

 Reznor: Wahrscheinlich bei der Zeit der "Downword Spiral"-Tour. Ich war ein Abhängiger der darauf wartete auszubrechen. Ich wusste damals nichts über Abhängigkeit. Ich dachte, ein echter Alkoholiker liegt mit der Nase auf dem Tresen und trinkt seinen letzten Whisky Sekunden vorm Exitus. Und ich glaubte, all das hat nichts mit mir zu tun. Es dauerte eine verdammt lange Zeit und unzählige schreckliche Situationen, in denen schon das schlichte Überleben problematisch schien, um zu erkennen, dass ich aufhören sollte, mich selber zu belügen. All das ging vor rund zehn Jahren los. Als wir 1997 nach einer zweieinhalbjährigen Tour aus dem Bus stiegen, blickten wir auf eine aufregende Zeit. Die ganzen Eindrücke, das öffentliche Interesse - Nine Inch Nails waren von einer bekannten zu einer verdammt bekannten Band geworden. Und der Süchtige in mir fand den perfekten Nährboden, um sich breit zu machen. Diese ganze Hysterie hatte etwas Überwältigendes, und meine Art, damit umzugehen, war, schlicht und einfach: Selbstmedikation.

 VISIONS: Wie nennst du deine Krankheit?

 Reznor: Innere Leere. Es war ein äußerst seltsames Gefühl, das ich mit mir herumtrug. Der Frust, die ausgeschüttete Energie, das viele Geld, das eine Rolle spielte, die Aufmerksamkeit, die ich bekam - all das führte zu einem Punkt, an dem ich dachte, diese Aspekte substituieren zu müssen, sie auf andere Weise auszuleben. Der Tourbus stoppte nach zweieinhalb komplett durchgedrehten Jahren, ich stieg aus und ging direkt mit Marilyn Manson ins Studio - was vom Gefühl her das Gleiche ist, wie auf Tour zu sein, nur dass man nicht so viel rumfährt (lacht). Es war die sprichwörtliche Hölle, aber wir leisteten trotzdem gute Arbeit. Als das dann vorüber war, dachte ich, ich breche auseinander.

 VISIONS: Was war dein Lieblingsmedikament?

 Reznor: Kokain war toll. Alles, was an mir falsch lief, wurde innerhalb von zehn Minuten repariert. Nur schnell eine Line ziehen, und alle Probleme sind Lichtjahre entfernt. Ein super Heilmittel. In Sekunden mutierst du vom Autisten zu einem weltgewandten Socializer, ich war super happy und locker drauf, ich freute mich über jede Form von Beschäftigung und Unterhaltung.

 VISIONS: Ein Trugschluss.

 Reznor: Natürlich. Ich begann an "The Fragile" zu arbeiten und bekam meinen Kram einfach nicht auf die Reihe. Ich gab auf und checkte im Rehabilitationszentrum ein, ohne irgendjemand Bescheid zu sagen - bis auf meinen Manager, der mir durch diese beschissene Zeit half. Ich hatte ja keine Ahnung, worauf ich mich da einließ. Ich dachte: Rehab? Schön! Ein paar Rückenmassagen, im Lotussitz Entspannungsmusik hören, ein bisschen Füße kneten, zwischendurch Shoppen.. Ich blieb einen Monat, und gegen Ende begann vieles von dem, was ich dort erfuhr, Sinn zu machen. Es fühlt sich einfach gut an, etwas an sich zu ändern, man hat den Eindruck, was Gutes für sich zu tun. Du ziehst dir eine Menge aus der Kameradschaft zu den anderen komischen Typen, die dort rumhängen auf der Suche nach dem Ich. Als ich rauskam, war ich sicher: So weit wird es nie wieder kommen.

 VISIONS: Und so fandest du dich in New Orleans wieder als erneuerter Mensch?

 Reznor: Das dachte ich, ja. Bis ich begann, die neu erlernten Regeln ein wenig auszudehnen. Ich dachte, dass ich anders, stärker bin als diese Typen, die auf ihren Fischkuttern sitzen und aus Langeweile anfangen zu trinken. Ich ging also ins Studio, arbeitete mir den Arsch ab, und dabei entstand "The Fragile".

 VISIONS: In der Rückschau meintest du, dass diese Phase die härteste war. Das überrascht, weil du doch eigentlich über den Berg und wieder clean warst.

 Reznor: Nun ja, clean meint in dem Zusammen hang: Ich war nicht kontinuierlich am Saufen. Allerdings war es mir damals noch nicht gelungen, Schnaps und Drogen durch etwas Sinnvolles zu ersetzen. Ich fühlte mich schlecht, leer, unausgeglichen. Ich war mitten in der Übergangsphase von einem Typen, der alles besser weiß und smarter ist als der Rest der Welt, hin zu einem Punkt der Selbstdiagnose und Erkenntnis, dass ich niemals wieder einen Drink haben kann, wenn ich nicht rückfällig werden will. So vieles, was ich geworden war, war erst durch diesen Lebensstil definiert worden. Und so war ich sehr schnell wieder an dem Punkt, wo ich auf wachte und mich als erstes fragte: Wo ist der Drink? Ich habe mich selbst bei vollem Bewusst sein beschissen. Es ist immer wieder dasselbe, die Krankheit zieht sich nur ein anderes hübsches Kleid an, um dich zu täuschen. Das ist sachlich nicht zu erklären. Zumal es gegen alles geht, über das ich mich immer definieren und was ich gern für mich in Anspruch nehmen wollte: Rationalität, Intelligenz, Aufgewecktheit, Spritzigkeit. Es war ein Kreislauf der Selbstverleugnung.

 VISIONS: Wie kam es zu dem erneuten schleichenden Abstieg?

 Reznor: Nun, "The Fragile" war fertig und stieg auf Platz eins in den Charts. Ich hatte nach dieser langen Phase des Entzugs eine ganze Weile ohne Drogen und Alkohol durchgehalten und dachte, ich sei kuriert. Und ich dachte: Na, wenn du schon wieder sauber bist, kannst du dir zur Belohnung mal einen Drink gönnen. Es war nur einer, und er schmeckte so verdammt hervorragend. Ich überprüfte mich in den nächsten Tagen, ging mit Freunden aus, trank nur Wasser, und dachte: Du hast es geschafft. Wenn du willst, kannst du einen Drink haben, aber du musst nicht. Also gönnte ich mir an eine Woche später mal zwei Drinks. Immer noch alles cool, ich fühlte mich gut, keine Probleme. Wieder eine Woche später ging ich aus und dachte: Na, einmal kannst du es doch auch mal krachen lassen. Ich hatte etwa 30 Drinks an dem Abend. Exakt zu dieser Zeit begann die einjährige "Fragile"Tour.

VISIONS: Ups.

 Reznor: Genau. Die Idee, die Sucht kontrollieren zu können, war schlicht falsch. Als die Tour startete, war ich bereits wieder auf meiner täglichen Alkoholration. Den ersten Drink hatte ich schon vor dem Frühstück, weil ich mich sonst mies fühlte. Eine halbe Stunde vor jeder Show bekam ich Panikattacken und musste mich übergeben, was ich dann mit noch mehr Alkohol und Drogen bekämpfte. In den lichten Momenten sagte ich mir immer wieder: Hör auf, hör verdammt noch mal auf! Was aber mitten auf Tour absolut unmöglich ist. Ich wollte abbrechen, wusste aber, dass mich das ein paar Millionen Dollar kosten würde. Als die Tour vorbei war, war auch der letzte Rest Selbstachtung verschwunden. Alles war weg, alles. Ich hasste mich selbst von ganz tief unten. Ich schaute in den Spiegel, betrachtete die lädierten Zähne, die graue Hautfarbe und hatte nicht die winzigste Erklärung, warum ich in diese Katastrophe geraten war. Es folgte eine intensive Phase des Selbstmitleids.

VISIONS: Was wohl sehr typisch ist für dieses Stadium.

 Reznor: Der gesamte Verlauf war typisch. Die Tour war also vorüber, ich kam wieder in New Orleans an und hatte absolut keinen Plan außer dem, einfach rumzuliegen und weiter zu leben. Ich fühlte mich wie in einem David Cronenberg Film.

VISIONS: Gab es einen konkreten Anlass, deine Situation zu überdenken?

 Reznor: Ja, Rodney.

 VISIONS: Dein Studio-Good Guy, das Mädchen für alles...

 Reznor: Eine Seele von Mensch, einer der hervorragendsten Charaktere, die ich je kennen lernen durfte. Ein echtes Produkt der Projects (das farbige Armen-Ghetto von New Orleans - Anm. d. Verf). Ich vertraute diesem Typen mehr als jedem anderen; er passte auf Haus und Hunde auf, wenn ich unterwegs war, er kümmerte sich um mich, wenn ich daheim war. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen: Er half mir in meiner psychischen Desorientierung, ich half ihm aus seinem Project-Elend. Doch dann wurde er umgebracht.

 VISIONS: Wie erfuhrst du davon?

 Reznor: Seine Mutter rief an und weinte. Ich schaltete den lokalen News-Sender an, sah die Einsatzwagen und Notärzte, eine abgedeckte Leiche, seinen Truck mit Einschusslöchern im Fenster... Man hatte ihm und seinem Cousin direkt ins Gesicht geschossen. Ein weiterer dieser sinnlosen, unerklärlichen Momente, die sich aus Armut, falschen Freunden und üblen Verpflichtungen ergeben. In dieser sehr drastischen und unwirklichen Situation wusste ich instinktiv: Das ist der Tiefpunkt. Ich bin noch nicht mal zu seiner Beerdigung erschienen. Ich hätte das nicht ausgehalten. Doch irgendwie wusste ich, dass ich etwas an mir ändern muss - wenn schon nicht für mich, dann für ihn, um dem plötzlichen und endgültigen Verschwinden dieser Person irgendeinen Sinn zu geben. Ansonsten wäre ich ihm in ein paar Monaten gefolgt.

 VISIONS: Wie bist du das angegangen?

 Reznor: Ich verbrachte zunächst eine hochgradig unangenehme Woche in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt und wurde mit heftigen Psychopharmaka ruhig gestellt - eine Erfahrung, die ich beim besten Willen nicht empfehlen kann. Es ist schwer, sich selbst überzeugend zu finden, wenn man dermaßen lethargisch und gleichgültig gespritzt wird, dass man sich selbst im Bett bepisst. Doch wenn du dermaßen an die Substanz deiner eigenen Existenz gehst, findest du Menschlichkeit. Nach dieser ersten Phase der Entgiftung...

 VISIONS: ...ging es dir sicher nicht besser.

 Reznor: Nein, aber von dort ging ich direkt in ein Heim für betreutes Wohnen und nahm für einen Zeitraum von sechs Wochen täglich an mehreren Einzel- und Gruppen-Therapien teil. Vieles war nicht neu: Ich kannte die ganzen Gespräche und Erkenntnisse bereits. Und doch war es dieses Mal anders, denn ich bewies bis zum Schatten des letzten Zweifels, dass ich es wollte. Das ist das Niederträchtige an der Suchtkrankheit: Du kannst dir hundert Fragen zu deinem Suchtverhalten stellen und 99 davon mit ja' beantworten - und doch wird dich das eine ‚Nein' wieder in den Strudel ziehen. Dieses Mal wollte ich zu allem Ja sagen, ohne Kompromisse. Das Happy End dieser Geschichte: Ich war dermaßen krank und ich war es so satt, mich in diesem Zustand zu befinden, dass ich bereit war zu sagen: Okay, was immer man mir erzählt, das ich tun soll, ich tu es.

 VISIONS: Und was geschah?

 Reznor: Innerhalb kürzester Zeit passierten eine Menge überwältigender Dinge. Die profansten alltäglichen Situationen stellten sich in einem neuen, aufwärtsstrebenden Licht dar. Das klingt nach einem schrecklichen Klischee, aber ganz plötzlich schien alles mehr oder weniger okay zu sein, zumindest konnte ich damit umgehen. Am Ende ist das Geheimnis ganz einfach: Mir gelang es, diese Person in mir ziehen zu lassen, die die falschen Sehnsüchte in sich trug und von der ich dachte, sie sei ich. Seitdem ist wirklich alles gut gelaufen, ich fühle mich wohl in meiner Haut.

 VISIONS: Auch unter Druck und in Stresssituationen?

 Reznor: Ja, absolut, denn auf die kommt es an. Gerade in den letzten Monaten hatte ich einige solcher Situationen zu bewältigen. Nimm nur das kürzlich wieder begonnene Live-Spielen, eine enorme Drucksituation: die Panikattacken, das Schlechtfühlen, das Übergeben - alles weg.

 VISIONS: Was ist die wichtigste Erkenntnis, die du bei all den Sitzungen gelernt hast?

 Reznor: Dass ich mich seit dem Moment meines ersten Plattenvertrags viel zu wenig um die Bedürfnisse und Sehnsüchte meines innersten Wesens gekümmert habe. Das ging so weit, dass ich sogar mehrfach in meinem Leben vergessen habe, warum ich Musik so sehr liebe. Musik war ein Aspekt meiner Karriere geworden, sie war belegt mit Druck, Erwartungen, Ansprüchen, Konkurrenzgedanken - eigenen und fremden. Ein Riesenhaufen Scheiße, der nichts damit zu tun hat, warum ich all das vor fast 20 Jahren begonnen habe. Doch dann stellte ich mir die entscheidende Frage: Bist du wieder bereit für die Musik? Hast du etwas zu sagen?

 VISIONS: Und die Antwort?

 Reznor: Ich habe lange nach ihr gesucht - mehr als zwei Jahre. Ich habe mir erst einmal Zeit gegönnt, mich an mein neues Ich zu gewöhnen, mich wieder mit intelligenten Dingen auseinander zu setzen. Zu Beginn des letzten Jahres habe ich mich dann wieder ins Studio gesetzt. Und dann kamen die Ideen. Und damit auch die Antworten.

 VISIONS: Was war anders unter künstlerischen Aspekten?

 Reznor: Interessanterweise gar nicht so viel, wie man vermuten würde. Ich fand heraus, dass der Rausch mir wohl für vieles diente, aber sicher nicht für eine bessere Inspiration oder mehr Kreativität. Denn die Arbeitsweise, die Ideen, die mir kamen, das Vorankommen, alles fühlte sich ähnlich, nur eben viel direkter an. Die Drogen hatten mir über all die Jahre nur geholfen, mich selber nicht so scheiße zu fühlen und meine Persönlichkeit aus dem Minus-Bereich wenigstens auf ein Null-Level zu heben. Und plötzlich war ich ohne all das im positiven Bereich. Das ist wohl der größte Unterschied. Es war ein großartiges Gefühl, clean zu werden, sich endlich wie ein Erwachsener zu benehmen, anstelle eines desorientierten Idioten, der einfach nicht kapieren will, was so geht.

 VISIONS: Gibt es auch etwas Gutes an dieser langen Zeit des Absturzes?

 Reznor: Es mag abgeschmackt klingen, aber als ich in all den Sitzungen die Geschichten der anderen hörte, die verheiratet waren und Familien hatten, war ich froh. Diese Leute haben nicht nur viele Jahre damit zugebracht, sich selber zugrunde zu richten, sie haben auch noch andere Leben zerstört, manchmal sogar ihre Kinder. In diesen Momenten dachte ich: Ich bin 37 und ich habe mich immer dafür bedauert, dass ich keine Frau, keine Familie habe, dass ich immer alles mit mir alleine ausmachen muss. Doch am Ende war es pures Glück, dass ich all das noch nicht habe. Denn nun muss ich mich nicht schlecht dafür fühlen, das Leben eines anderen Menschen zerstört zu haben.

 VISIONS: Eine Beziehung, die fast 20 Jahre hielt, endete, als du gesund wurdest: die zu deinem Manager John Malm Jr. Gibt es da einen Zusammenhang?

 Reznor: Natürlich. Seitdem ich clean bin, haben wir uns kaum gesehen. Er war über fast zwei Jahrzehnte meine engste Bezugsperson, enger als meine Familie. Doch offenbar geht nicht nur der Abhängige durch eine Transformation, sondern auch sein Umfeld. Ich möchte zwar nicht behaupten, dass irgendjemand im Umfeld eines Süchtigen traurig darüber ist, wenn derjenige clean wird. Aber ich glaube doch, dass dominante Persönlichkeiten ein Problem damit haben, wenn jemand, den sie als eine charakterliche Schleimblase kennen, plötzlich ein Gehirn, eine Meinung und eine Präsenz hat. Dieser Typ stand an meiner Seite in ungezählten üblen Situationen, er war mein bester Freund. Und dann plötzlich ändere ich mich, und die Freundschaft fühlt sich schal an, weil er nicht das Gute und Richtige in meiner Veränderung sehen kann. Was nur wie der beweist, wie sehr dich die Drogen, der Alkohol, dieser ganze Rauschzustand verändern: Du hältst eine Beziehung für die wichtigste deines Lebens, doch dann sich in Luft auflöst, sobald sie mit der Realität konfrontiert wird.

 VISIONS: Wie sah die Realität aus?

 Reznor: Als ich mich erstmals wirklich für meine geschäftlichen Belange interessierte, entstand das große Fragezeichen, wo eigentlich das ganze Geld hin ist. Es gab nie einen Plan für die Zukunft, es gab keine Strategie, stattdessen viele dubiose Geschäftsverwicklungen. Damit begann die Entzweiung. ‚Nothing' wurde geschlossen, die Verträge annulliert, er wollte nicht, dass ich New Orleans verlasse. So schmerzhaft das war, muss ich sagen, dass ich glücklich bin, dass ich all diese überfälligen Entscheidungen endlich getroffen habe.

 VISIONS: Zurück zu "With Teeth': Das Album klingt perfekt nach Nine Inch Nails und doch ziemlich anders - reduzierter, viel poppiger, von den Sounds her fokussierter und allgemein deutlich pointierter. Wie liefen die Aufnahmen im Vergleich zu "The Fragile'?

 Reznor: Nun, was zunächst ähnlich war, war die Angst, dass mir nichts einfällt. Ich saß vor diesem weißen Blatt Papier, das sich nicht füllen wollte. Aber ich hielt das diesmal aus. Ich ließ mir Zeit. Irgendwann habe ich mich gezwungen. Wäre gar nichts gekommen, wäre das sicher eine große Enttäuschung gewesen, aber ich war über den Punkt hinaus, wo ich mich deswegen aus dem Fenster gestürzt hätte. Also ging ich in L.A. ins Studio und stellte mein Songwriting komplett auf den Kopf: Ich begann mit den Worten. Und so kam es zusammen. Ich hatte Worte, setzte mich ans Piano, fand eine Melodie. Kein Sound-Design, keine Improvisation, kein zielloses Rumfummeln.

 VISIONS: Und so entstand das, was du selber als "13 starke Songs" bezeichnest, die Freunde mit einander sind, aber jeder für sich stehen?

 Reznor: Ja. Denn es ging wirklich um den einzelnen Song als solchen. Seit meinem Debüt waren die Prozesse Songwriting, Arrangement und Produktion immer ein und dasselbe. Diesmal habe ich das vorsätzlich voneinander getrennt. Und ich wollte Demos machen - also Sachen, die ich halbfertig mache, weglege, und zu denen ich später zurückkomme, um sie richtig aufzunehmen, wenn sie sich als stark genug erweisen. Nicht wie auf den Alben davor, als ich versuchte, um einen coolen Sound herum einen Song zu kreieren. Und es funktionierte. Es ist ein anderes Nine Inch Nails-Outfit als zuvor, aber es ist dennoch vollkommen Nine Inch Nials. Und: Ich fühlte mich mit dem Entstandenen sicherer und zufriedener als je zuvor. Ein guter Zustand.

 VISIONS: Was bedeutet Sicherheit für dich in diesem Zusammenhang?

 Reznor: Ich denke, mir ist jetzt erst klar geworden, wieviel Angst mich regiert hat. Immer. "Th Fraile" hätte ich ehrlicherweise "Die Fear" nennen sollen. Ich war in einem durchgehenden Stadium absoluter Panik. Selbst bei "Downward Spiral" -  dem ich immer behauptet habe, dass es in meinem Kopf als Konzept bereits fix und fertig war - habe ich ständig darüber nachgedacht, was die Leute darüber denken werden. Als ich an "With Teeth" gearbeitet habe, habe ich bemerkt, dass sich die für mich verstöhrendste und zugleich kreativ gesehen chancenreichste Musik in Songs findet, die für den Außenstehenden konventionell klingen werden: ‚All TEe Love In Die World", "Right Where lt Belongs", "Love Is Not Enough", doch vor allem "The Hand That Feeds": Denn sie wirken catchy, zugänglich und offensichtlich. Sie klingen nicht vorsätzlich tough, sie sind das Gegenteil von achtminütigen Kunst-Epen, sie sind keine Tool-Songs, die niemand außer den Künstlern selbst versteht. Daran ist ja nichts Falsches, ich habe so etwas auch schon gemacht. Aber als ich an dieser Musik arbeitete, an diesen standardisierten Song-Strukturen mit simplen Riffs, stellte ich fest: Verdammt, du magst das ja!

 VISIONS: Nun gibt es Stimmen, die dir deswegen Vorwürfe machen. Deine Anhänger haben Angst, dich an den Mainstream zu verlieren.

 Reznor: Für mich war der zentrale Punkt beim Musikmachen immer: Versuche mit allem, was dir zur Verfügung steht, die ehrlichste, persönlichste Musik zu machen, die dir möglich ist. Skizziere dem Hörer über deine Musik, wer du bist, wie du dich in der jeweiligen Situation fühlst. Ich glaube einfach daran, dass das der ein zige Weg ist, über die Kunst deine Wahrheit zu erzählen, eine Wahrheit, die Sinn und Integrität besitzt. Ich kann auf alles zurückblicken und ehrlich sagen, dass ich das immer getan habe. Aber Pakt ist nun mal, dass ich heute nicht mehr viel mit dem Typen zu tun habe, der die Alben davor gemacht hat. Das bedeutet nicht, dass ich nur noch über Glückseligkeit, Teddybären und Sonnenschein singen muss. Aber es war eben sehr interessant festzustellen, dass ich die Fähigkeit habe, mit Klarheit im Studio Elemente und Ideen zu bearbeiten, die ich zuvor niemals zu meiner Vorstellung von Kunst gezählt hätte.

 VISIONS: Der ‚Dark Prince' war also Selbstbetrug?

 Reznor: Zumindest kann man sagen, dass die Depressionen, die ich über mein gesamtes Leben hatte, kein elementarer Teil meiner Persönlichkeit sind. Sie waren manchmal inspirierend, sie haben mich auf kuriose Ideen gebracht, aber sie waren nichts, was zwingend zu mir gehört. Der Flirt mit der Dunkelheit macht noch immer Spaß, und auch jetzt noch fühle ich Wut, Niedergeschlagenheit, Traurigkeit. Aber inzwischen macht es mir eben auch Spaß, einfach auszuprobieren, was entsteht, wenn ich glücklich und ausgeglichen bin. Es ist nun mal nichts Romantisches daran, sich in einem derart schwarzen Loch zu befinden, dass du tagelang nicht mehr aufstehen kannst. Das ist nicht sexy, überhaupt nicht. Alles, was ich also tun kann, ist, ehrlich zu mir selbst zu sein. Was andere von dem Ergebnis halten, muss mir egal sein. Ich bin nicht bereit, wie der an einen Ort zurückzukehren, an dem ich nicht mehr existiere, nur damit pathologische Goth-Fans und andere Freaks zufrieden sind. Das hielte ich für die deutlich größere Sünde. Die letzten zehn Jahre waren Sünde genug, wenn ich überlege, wie ich mit mir umgegangen bin. Ich erinnere mich gut daran, wie ich 28 war. Jetzt bin ich 39. Doch wo ist die Zeit dazwischen?

 VISIONS: Wenn wir schon beim Alter sind: Wie fühlst du dich angesichts deines anstehenden Geburtstags? Hast du Angst davor, 40 zu werden?

 Reznor: Eine Sache, die du in der Therapie lernst, ist, dass dein erlebtes Alter in dem Moment stoppt, in dem du ernsthaft abhängig wirst. So gesehen fühle ich mich wie 28. (lacht) Nein, im Ernst: Was soll ich machen? Natürlich habe ich keine Lust, 40 zu werden. Aber alles, was ich tun kann, ist: ehrlich mir selbst gegenüber sein. Wenn ich zum ersten Mal einen Kommentar höre, wie man ihn immer wieder über Mick Jagger hört - "Für sein Alter sieht er aber echt noch gut aus" - dann ist es Zeit, meine Rolle zu über denken und vielleicht nur noch akustische Konzerte mit Bestuhlung zu spielen. Im Moment fühle ich mich aber extrem vital. Es gibt keine Unsicherheit oder Angst, einer Tour nicht gewachsen zu sein. Wir werden sehen, wie es läuft.

 Sascha Krüger

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